Am 16. Mai gab World Press Photo bekannt, dass die Organisation Nick Út vorerst die Urheberschaft an seiner weltweit berühmten Kriegsfotografie entzog. Der Grund: Das 1972 aufgenommene sogenannte „Napalm-Girl“-Foto ist möglicherweise gar nicht von ihm fotografiert worden. Wie kam es zu neuen Fragen an das 1973 mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Bild, das gemeinsam mit dem 1968 entstandenen Foto der Hinrichtung des Vietcong-Guerillas Nguyễn Văn Lém unser Bild des Vietnam-Krieges prägte? Der aktuelle Dokumentarfilm The Stringer wirft ein anderes Licht auf die Urheberschaft des Bildes, indem er argumentiert, dass der vietnamesische Fotograf Nguyễn Thành Nghệ dieses Foto geschossen haben könnte. Darüber hinaus steht ein weiterer, nicht im Film angesprochener Name plötzlich ebenso im Raum: der des vietnamesischen Militärfotografen Huynh Cong Phuc. Die Untersuchung ergab, dass das Foto mit einer Pentax-Kamera und nicht mit einer Leica aufgenommen worden war, die beide Männer benutzt haben sollen. Út hatte ausgesagt, er habe neben seiner Leica auch die Kamera seines gefallenen Bruders mitgeführt – und dies sei eine Pentax gewesen. Die Nachrichtenagentur Associated Press, damals der Arbeitgeber von Út, steht nach eigenen Nachforschungen weiterhin an der Seite von Nick Út. Die Authentizität des Fotos selbst steht nicht infrage. Auch die Bedeutung des Bildes für die Kriegsberichterstattung bleibt unbestritten. Das als The Terror of War bekannte Bild zeigt das neunjährige Mädchen Phan Thị Kim Phúc, das nach einem Napalm-Angriff nackt und schreiend mit entsetztem Gesichtsausdruck eine Straße entlangläuft. Kim Phúc, die seit der Katastrophe bis heute zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen musste und ihr gesamtes Leben von den Verbrennungen und den traumatischen Erfahrungen gekennzeichnet ist, wurde ebenfalls zur Urheberschaft befragt. Sie hält weiterhin an Nick Út als Fotografen fest, mit dem sie seit vielen Jahren eine Freundschaft verbindet. Nguyễn Thành Nghệ selbst äußerte sich in Presseinterviews ausweichend. Jenseits der Frage nach der Urheberschaft, die nach über 50 Jahren möglicherweise nicht mehr geklärt werden kann, sind zwei grundsätzliche Beobachtungen wichtig: Zum einen animiert die neue Diskussion dazu, ein Bild, das wir schon lange in unserem kulturellen Archiv abgespeichert haben, noch einmal genauer zu betrachten. Zum anderen können Filme wie The Stringer oder auch der 2023 veröffentlichte Film The Zone of Interest historische Ereignisse neu ins Bewusstsein rücken. In The Zone of Interest wird über das unmittelbar an die Lagermauer grenzende ‚Traumhaus‘ des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, seiner Frau Hedwig und seiner fünf Kinder, Hannah Arendts Formulierung der „Banalität des Bösen“[1] wirkmächtig. Die unerträgliche Widersprüchlichkeit, die der Film transportiert, zwingt uns zu einem neuen Blick auf die Shoah. Beide Filme, obgleich so unterschiedlich gelagert, haben eine Gemeinsamkeit: Sie thematisieren auch Traumata von Kindern als Opfer und im Fall der Familie Höß gleichzeitig als Opfer und Mittäter. Konnte die schwer verwundete Kim Phúc tatsächlich sehen, wer auf den Auslöser der Kamera drückte? Konnten die Kinder von Höß wirklich nicht sehen, dass sich direkt neben der Idylle ein beispielloser Massenmord ereignete? –
Im vorliegenden Heft thematisiert die Publikation von Eyal und Ines Weizman Vorher und Nachher. Die Architektur der Katastrophe die Entwicklung des Vorher-Nachher-Bildes von der Fotografie bis zu Satellitenaufnahmen. Im Fokus steht, in welcher Weise Katastrophen dokumentiert und interpretiert werden und an welchen Stellen menschliche Schicksale in diesen Bildwelten oft unsichtbar bleiben. Eine interdisziplinäre Perspektive auf die Kunstproduktion um 1500 bietet die Publikation Frührenaissance in Mitteldeutschland. Macht. Repräsentation. Frömmigkeit. Hier stehen die europaweite Vernetzung mitteldeutscher Kunstzentren sowie gesellschaftliche und religiöse Umbrüche im Mittelpunkt. Nicole Gottschalk analysiert in Watteau – Boucher – Chardin die Rezeption französischer Rokokomaler in den kunsthistorischen Handbüchern des frühen 19. Jahrhunderts. Mit dem Werkverzeichnis zu Emil Orlik von Peter Voss-Andreae und Birgit Ahrens rückt ein Künstler in den Mittelpunkt, dessen druckgrafisches Schaffen erstmals erschlossen wird. Roland Kanz legt mit Skulptur des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine systematische, gattungsübergreifende Analyse skulpturaler Praxis im deutschsprachigen Raum vor. Die Studie vereint gesellschaftliche, ikonografische und ästhetische Perspektiven und macht die innovative und komplexe Kunstproduktion dieser Epoche sichtbar. In Geschmack der Freiheit zeigt Ute Cohen anschaulich, wie eng Kulinarik, Genuss und Esskultur mit gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen verbunden sind. Der Ausstellungskatalog Carol Rama. Rebellin der Moderne setzt den Fokus auf das experimentelle Œuvre der Künstlerin, die Themen wie Sexualität, Krankheit und Tod verarbeitet. Von Art Déco bis DDR stellt 40 ausgewählte Objekte aus dem Museum für Angewandte Kunst Gera vor. Innovative künstlerische Techniken stehen im Mittelpunkt von Lise Gujer. Eine neue Art zu malen. Die Publikation beleuchtet, wie Gujer Entwürfe von Ernst Ludwig Kirchner in farbenprächtigen Teppichen umsetzte. Die Retrospektive Hans Haacke dokumentiert ein Schaffen, das gesellschaftliche Machtstrukturen, soziale Ungleichheit und ökologische Themen kritisch reflektiert. Haacke ist nicht zuletzt ein Pionier der musealen Institutionskritik. Die Verbindung von Kunstgeschichte und Naturwissenschaft erkundet Howell G. M. Edward, der in seiner Studie eine Kopie nach Raffaels Sixtinischer Madonna durch forensische Analysen untersucht. Die Publikation Noah Davis bietet erstmals einen eindringlichen Überblick über das Werk des 2015 verstorbenen Künstlers und seine Darstellungen Schwarzer Menschen im Alltag.
Wir danken unseren Autorinnen und Autoren und unseren Mitarbeiterinnen Stella Geiger, Annika Bless und Charlotte Steinhauer für ihre redaktionelle Unterstützung.
Birgit Ulrike Münch Christoph Wagner
[1] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New York 1963.
Das Vorwort und das Inhaltsverzeichnis zum Download.