Carl Proske (1794–1861) spielte eine zentrale Rolle bei der Regensburger Reform der katholischen Kirchenmusik im 19. Jahrhundert. In Schlesien geboren, studierte Proske zunächst Medizin, bevor er 1823 nach Regensburg übersiedelte, um bei dem späteren Bischof Johann Michael Sailer (1751–1832) Theologie zu studieren. Als Priester und Kirchenmusiker strebte er eine Erneuerung der klassischen Vokalpolyphonie an, die er als Ideal der liturgischen Musik betrachtete.
Proskes Reformen, für die er Unterstützung durch seinen Mentor Sailer und König Ludwig I. (1786–1868) erhielt, zielten darauf ab, die Musik als integralen Bestandteil der Liturgie zu stärken. Mit seinen Ideen reihte sich Proske in die von unterschiedlichen Strömungen getragene Palestrina-Renaissance im 19. Jahrhundert ein, zu denen romantisch-weltanschauliche ebenso gehören wie kultisch-liturgische. In Palestrinas Schaffen fand die Bewegung das Ideal einer „reinen“ und „wahren“, von subjektiven Affektdarstellungen freien Kirchenmusik verwirklicht. So urteilte Proske:
Dass Palestrina sein lebenslanges, nach Weite und Tiefe unermessliches Kunstschaffen dem reinen Kirchenstyl gewidmet, begründet die wahre Grösse seines Charakters.
Die Durchführung seiner Reform gelang Proske zunächst an der Alten Kapelle in Regensburg, an der er seit 1830 Kanoniker war. Erst 1856 wurde die ausschließliche Pflege der A-cappella-Musik auch an der Kathedralkirche eingeführt.
Um sein Ziel zu verwirklichen, begann Proske mit dem Aufbau einer umfassenden Sammlung von Werken der alten Vokalpolyphonie. Er erwarb zunächst den musikalischen Altbestand aus der ehemaligen reichstädtischen Lateinschule (dem Gymnasium poeticum) in Regensburg. Außerdem unternahm er zwischen 1834 und 1838 Forschungsreisen nach Italien, um in Bibliotheken und Archiven rund 3.000 Abschriften von Werken Palestrinas, Lassos, de Victorias und weiterer Komponisten aus dem 16. Jahrhundert anzufertigen. Darunter befinden sich Kompositionen, die heute nur noch in Proskes Abschrift erhalten sind.
Die Musiksammlung bildete für Proske die Grundlage zur Erarbeitung von Editionen. Im Mittelpunkt seines editorischen Schaffens steht die vierbändige Musica Divina (1853–posthum 1863). Die Anthologie enthält, nach liturgischen Gattungen geordnet, A-cappella-Werke für alle Verrichtungen des Kirchenjahres: Messen, Motetten, Vespermusiken und Kompositionen für die Karwoche (Lamentationen, Litaneien). Unter den vertretenen Komponisten nimmt Palestrina quantitativ eine hervorgehobene Rolle ein. Neben ihm sind aber auch zahlreiche weitere, zu Proskes Zeit noch weniger bekannte Komponisten vertreten: Felice und Giovanni Francesco Anerio, Luca Marenzio, Orazio Vecchi, Giovanni Croce, Gregor Aichinger, Jacobus Gallus und viele andere.
Proske hat die Werke unter Angabe der genutzten Quellen kritisch ediert und im Vorwort mit Kommentaren zur Aufführungspraxis versehen, um sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen als auch die Interpretation zu erleichtern.
Bereits 1850 legte Proske eine Edition von Palestrinas heute berühmtester Messe vor: die Missa Papae Marcelli (Hörbeispiel). Sie galt im 19. Jahrhundert als Höhepunkt einer langen Entwicklung der Vokalpolyphonie aufgrund von Klarheit, Wohlklang und einer perfekten Balance zwischen Kunstfertigkeit und Textverständlichkeit. Proskes Ausgabe enthält das Werk in drei Fassungen: die sechsstimmige Originalversion Palestrinas, die vierstimmige Bearbeitung von Giovanni Anerio (1569–1630) und die achtstimmige Fassung von Francesco Soriano (1548/49–1621).
Proske legte sein kirchenmusikalisches Credo im Vorwort der Musica Divina nieder. Seine Kirchenmusikästhetik basiert auf der Idee einer authentischen und würdigen Kirchenmusik, die eng mit der Liturgie verbunden ist. Polyphone Kompositionen von Palestrina und Lasso wurden von Proske nicht nur als Kunstwerke betrachtet, sondern als integrale Bestandteile des liturgischen Geschehens.
In der Verschmelzung von gregorianischem Choral und mehrstimmiger Polyphonie sah Proske die ideale Form der kirchlichen Musik, da sie eine schlichte Ehrfurcht mit künstlerischer Komplexität verbindet. Die unbegleitete menschliche Stimme betrachtete er als das reinste Instrument für den Ausdruck religiöser Hingabe.
Das edelste Gebilde aber, zu welchem die Menschenstimme sich erheben kann, ist ein lebendiges Organ des christlichen Gottesdienstes zu werden, zu den Mysterien der Kirche in nächste Beziehung zu treten. Ihre Bestimmung erhebt sich weit über jede ästhetische Aufgabe der Kunst beim christlichen Gottesdienste; ein Kreis liturgischer Normen ist ihr eingewiesen, die Weihe der in ihren Mund gelegten heiligen Worte und Töne erzeugt ein Bild reiner, unverwelklicher Schönheit, das vom Hauche subjectiver Kunstabsicht nicht getrübt werden soll.
(Carl Proske: Musica Divina, Annus primus, Tomus I, Liber Missarum)
Alexander Feih
![]() | Carl Proske, Ölgemälde von Barbara Popp, Regensburg 1860. Standort: Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg |
Mainz: Schott, 1850
Ausgabe der Missa Papae Marcelli in drei Fassungen:
1) 6-stg. Originalversion Palestrinas
2) 4-stg. Bearbeitung von Giovanni Francesco Anerio
3) 8-stg. (doppelchörige) Fassung von Francesco Soriano
Signatur: Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Pr-M Palestrina IX/8a (Digitalisat nach dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek)
Regensburg [u.a.]: Pustet, 1853
In vier Bänden bietet die Musica divina Werke der altklassischen Vokalpolyphonie zum liturgischen Gebrauch. Mit diesem Sammelwerk legte Carl Proske die editorische Grundlage der kirchenmusikalischen Reform.
Zwischen 1853 und 1863 erschienen vier Bände:
1) Liber missarum (1853)
2) Liber motettorum (1855)
3) Psalmodia, magnificat, hymnodia et antiphonae beatissimae Mariae virginis (1859)
4) Liber vespertinus (1863, posthum)
Signatur: Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Mus.pr. 3592-1,1 (Digitalisat nach dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek)
Palestrina: Missa brevis, S. 3
Abschrift (C. Proske) – Partitur – 3 Bl. – 22,5 x 29,5 cm
Bologna, 25. Juli 1837
Diese Palestrina zugeschriebenen achtstimmigen Lamentationen spartierte Carl Proske 1837 im Minoritenkonvent in Bologna. Die Komposition ist heute nur noch in Proskes Abschrift erhalten. Sie gehört zum Stammrepertoire des Regensburger Domchors und wird jährlich am Gründonnerstag gesungen.
Signatur: Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Pr-M Palestrina VIII/1
Titelseite und Beginn der Komposition mit Textanfang Incipit Lamentatio Hieremiae Prophetae
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